Massimo Marini by Dobelli Rolf
Autor:Dobelli, Rolf [Dobelli, Rolf]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 978-3-257-60082-7
Herausgeber: Diogenes
veröffentlicht: 2014-12-28T05:00:00+00:00
[213] »Jetzt kommen wir der Sache näher.« Kleinberg schmunzelt. »Ich habe Ihren Text heute Morgen gelesen. Er lag ausgedruckt auf dem Tisch im Mansardenzimmer. Sie saßen noch beim Frühstück. Tut mir leid, Wyss, wenn ich in Ihrer Schreiberei wühle, aber wer weiß, ob Sie mir diesen Auszug je zum Lesen gegeben hätten.«
Er wartete auf eine Reaktion.
»Überhaupt hege ich langsam die Vermutung, dass Sie mir nur Dinge zum Lesen geben, die nichts mit Ihnen zu tun haben. Also, ich entschuldige mich dafür, dass ich in Ihren Unterlagen geschnüffelt habe, aber ich bin ziemlich sicher, die Erkenntnis daraus wird zu Ihrem Wohl sein.«
Er strahlte wie ein Detektiv, der einen Haufen verschossener Patronenhülsen gefunden hat.
»Die Erkenntnis ist ganz einfach: Sie fühlen sich wegen Ihrer kleinen Affäre mit Massimos Frau schuldig. Schuldig gegenüber Massimo. Darum sind Sie ihm dermaßen ausgeliefert. Darum Ihre heftige Reaktion, als er vor drei Wochen das Geschäftsverhältnis aufgelöst hat. Sie haben sich bis heute nicht vergeben, Wyss. Diese Geschichte wühlt noch viel zu heftig in Ihnen. Ich glaube, dort müssen wir mit unserer Therapie ansetzen.
Sie heben diesen Mann in den Himmel, und je höher Sie ihn heben, desto tiefer ziehen Sie sich hinunter. Sie sakralisieren Massimo und profanisieren sich selbst. Warum, [214] Wyss? Warum heben Sie Massimo auf das Podest? Warum bewundern Sie ihn dermaßen? Bei diesen Fragen müssen wir ansetzen.«
Zur Psychotherapie: Dass sich jemand so für einen interessiert, mehr, als man sich je für sich selbst interessieren kann, empfinde ich als Luxus. Ich komme mir dann eine Stunde lang sehr wichtig vor.
Es ist wie ein Dampfbad: Man schickt sich hinein, genießt die aromatische Hitze, die Entschlackung aller Gedanken, dann entsteigt man dem Dampf, und nichts bleibt von dieser Stunde übrig.
Mein Wunsch, dass jede Begegnung mich dauerhaft verändern, jede Stunde meines Lebens mich umpflügen möge, hat sich als Illusion erwiesen.
Und doch. Ich freue mich über die Gespräche mit Kleinberg. Kleinberg, der auf Anhieb das Beste im Menschen erblickt, ist, soweit ich es nach drei Wochen beurteilen kann, ein netter, aber im Grunde naiver Mensch. Er ist trainiert in dem unumstößlichen Glauben, dass jedermann nicht nur ein Recht auf Glückseligkeit besitzt, sondern ihm prinzipiell zur Glückseligkeit verholfen werden kann.
Wenn ich ihm dann entgegne: »Herr Kleinberg, jeder hat doch auch ein Recht auf Intelligenz und Schönheit, aber Sie wissen selbst, dass man einen dummen und hässlichen Menschen nur beschränkt zu einem Adonis umfunktionieren kann«, ist er persönlich getroffen.
Es kommt nie zur Diskussion über die Grundsatzfragen der Psychotherapie, obwohl gerade dies mich interessieren würde. Kleinberg, verkrochen in seiner Überzeugung, [215] wiederholt dann bloß sein Anliegen, dass ich möglichst über mich schreiben soll und weniger über Massimo.
Ich sage mir: Eine Gesellschaft, die sich Tunnels durch die Alpen leisten kann, kann sich auch eine Armee von Psychiatern leisten.
Es kommt mir manchmal vor, als sei es ohnehin das Gleiche: Kleinberg treibt einen Tunnel durch mein Inneres. Das Ausbruchmaterial legt er während unserer Sitzungen Stück für Stück auf den Tisch, und wir müssen darüber reden – über meine Mutter, meinen Vater, andere Bezugspersonen aus frühester Kindheit. Alles so langweilig wie der unscheinbarste Granit, finde ich.
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